Ein ganz besonderes Jahr für Europa

von Aurel Schubert


Das Jahr 2014 stellte die Versicherungsbranche vor große Herausforderungen. Aurel Schubert, Chefstatistiker der Europäischen Zentralbank, erklärt, wie die Geldpolitik auf die wirtschaftlichen Einflüsse reagiert hat und warum er zuversichtlich in die Zukunft blickt.

2014 war nunmehr bereits das siebente Jahr der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, insbesondere in Europa und im Euroraum. Die europäische Realwirtschaft war weiterhin von einer beträchtlichen Unterauslastung der Kapazitäten geprägt. Die Inflationsrate, aber auch die Inflationserwartungen über alle Zeithorizonte haben nicht nur stark abgenommen, sondern historische Tiefstände erreicht. So lag die Inflationsrate im Euroraum im Dezember 2014 und in der Folge Anfang 2015 im negativen Bereich. Auch die Entwicklung der Kreditvergabe war weiterhin negativ und die der Geldmengen verhalten.

Innovative Geldpolitik

Die Geldpolitik reagierte entschlossen. Die konventionellen Instrumente der Europäischen Zentralbank (EZB) wurden voll ausgereizt, bis hin zu gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäften und selbst negativen Einlagenzinssätzen. Im Juni 2014 wurde der Einlagensatz – der sich schon seit Mitte 2012 bei null befunden hatte – auf minus 0,1 Prozent und dann im September sogar auf minus 0,2 Prozent gesenkt. Gleichzeitig wurde der Hauptrefinanzierungssatz, der zu Beginn der Krise noch bei 4,25 Prozent gelegen war, auf das historische Tief von 0,05 Prozent zurückgefahren. Der Zinskanal wurde damit voll ausgeschöpft.

Um eine noch weiter gehende geldpolitische Lockerung zu erreichen, wurden diese Zinsmaßnahmen durch eine Reihe von – teils innovativen – unkonventionellen expansiven Maßnahmen ergänzt. Diese fanden mit dem Start des Ankaufs von Euroraum-Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt (neben privaten „Asset Backed Securities“ und gedeckten Schuldverschreibungen) im März 2015 ihren bisherigen Höhepunkt.

All diese Maßnahmen, mit denen teilweise Neuland für Notenbanken betreten wurde, verfolgen den gleichen Zweck: der EZB zu ermöglichen, ihr Mandat zu erfüllen. Das bedeutet, die Inflationsentwicklung, die Anfang 2015 sogar ein Minus der Verbraucherpreise von 0,6 Prozent gebracht hatte, zu korrigieren und wieder an das Ziel der EZB – nämlich unter, aber nahe an 2 Prozent – zurückzuführen. So sollen einerseits Deflationsgefahren bekämpft und die Inflationserwartungen des Markts nachhaltig in Richtung Zielwert beeinflusst werden. Der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik soll wiederhergestellt und damit einhergehend sollen die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen und private Haushalte im Euroraum weiter verbessert werden. So sollen die heimische Nachfrage und über Wechselkurseffekte auch die Auslandsnachfrage gestärkt werden. Gleichzeitig sollen auch die positiven Effekte der inzwischen erfolgten Bereinigung vieler europäischer Bankbilanzen – im Zusammenhang mit dem Start der Bankenunion und den damit verbundenen „Asset Quality Review“ – unterstützt werden.

Nebenwirkungen der Geldpolitik

Aber diese Situation und die getroffenen Maßnahmen haben gleichzeitig auch für viele Finanzmarktakteure, insbesondere Versicherungen und Pensionskassen, völlig neue, nie zuvor dagewesene Herausforderungen in Form von „Nebenwirkungen“ geschaffen. Negative Renditen am Geldmarkt und auch für Staatsanleihen – teilweise selbst für Unternehmensanleihen – bester Bonität in Europa sind Symptome, welche die Veranlagungspolitik vor eine historisch völlig neue Situation stellen. Damit gab es bisher keine Erfahrungen, auf die man zurückgreifen könnte. Gleichzeitig gehen – nicht zuletzt durch die Ankaufsprogramme der Zentralbanken – die Risikoaufschläge auf niedrigere Bonitäten zurück, während Rückzahlungen und Verkäufe Wiederveranlagungsbedarf in diesem schwierigen Marktumfeld schaffen.

Asynchrone Wirtschaftsentwicklung

Die wirtschaftliche Entwicklung war 2014 zwischen den großen Wirtschaftsräumen der Welt, aber auch weiterhin innerhalb des Euroraums, sehr divergent. Die Erholung im Euroraum blieb – zumindest bis Anfang 2015 – sehr verhalten, gezeichnet von beträchtlichen ungenutzten Kapazitäten, anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und einem Jahreswachstum von unter einem Prozent. Gleichzeitig hat die wirtschaftliche Erholung in den USA beträchtliche Fortschritte gemacht, sie dürfte ein Wachstum von rund 2,5 Prozent gebracht haben. Das hat sich auch in zunehmenden Unterschieden im geldpolitischen Zyklus diesseits und jenseits des Atlantik widergespiegelt. Während in den USA die Frage der beginnenden Rücknahme expansiver geldpolitischer Maßnahmen („Tapering“) im Vordergrund des Interesses der Märkte und Analysten stand, lag im Euroraum der Fokus auf möglichen neuen expansiven geldpolitischen Entscheidungen („Quantitative easing“).

Wachstumsmotor Strukturreformen?

Nachdem nunmehr die Möglichkeiten der Geldpolitik im Euroraum weitestgehend ausgereizt sind, kommt den schon lange anstehenden Strukturreformen eine erhöhte Bedeutung zu. Hier ist die Politik gefordert, Maßnahmen zu treffen, die eine dauerhafte und nachhaltige Steigerung des Wachstumspfades ermöglichen oder zumindest unterstützen.

Der Bankensektor spielt für die Finanzierung der europäischen Realwirtschaft – teilweise im Gegensatz zu den USA – eine herausragende Rolle. Daher ist auch die Gesundheit des europäischen Bankensektors von besonderer Bedeutung für ein Wiedererstarken der europäischen Wirtschaft. Mit der Etablierung der gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht bei der EZB im November 2014 wurde dafür ein historischer Meilenstein gesetzt. Damit sollte das Vertrauen in den Bankensektor entscheidend gestärkt und so auch wieder der normale Transmissionsmechanismus der Geldpolitik in Gang gebracht werden.

2014 brachte für den Finanzmarkt in Europa und im Euroraum eine Vielzahl von Innovationen, sowohl geldpolitischer als auch institutioneller Art. Innovationen, die unterstreichen, dass Europa, wenn es gefordert ist, durchaus entschlossen agieren kann. Diese Innovationen bilden nunmehr – wenn sie von ähnlichem Mut bei Strukturreformen begleitet werden – auch eine solide Basis für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung in Europa. Das sollte uns Vertrauen für künftige Herausforderungen geben.

Aurel Schubert ist seit Juni 2010 Generaldirektor für Statistik der Europäischen Zentralbank. Zuvor war der Wirtschaftswissenschafter in der Oesterreichischen Nationalbank tätig. Er leitet das Statistische Komitee des Europäischen Systems der Zentralbanken, ist Mitglied des European Statistical Advisory Committee (ESAC) und im Vorstand des Irving Fisher Committee on Central Bank Statistics.

Hinweis: Der abgebildete Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder. Diese stimmt nicht notwendigerweise mit der offiziellen Sprachlinie der Europäischen Zentralbank überein.

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